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Was Netzwerke für Unternehmen leisten – Konnektivismus im Praxistest

Was kann eine Lerntheorie zum Unternehmenserfolg beitragen? Dass die Wirtschaft sich in einer sehr volatilen Situation befindet und sich auf schnelle Veränderungen der Märkte einstellen muss, ist ein Gemeinplatz. Was aber bedeutet diese Aussage für den Unternehmensalltag von HR, Learning and Development, Personalentwicklung, Recruiting und verwandten Funktionen, die wir hier der Einfachheit halber unter „Corporate Learning“ zusammenfassen? Wie wird aus einer sehr pauschalen Aussage praktisches Handeln?

Alles begann mit zwei Thesen:

  • Die Digitalisierung wird unsere Arbeits- und Lernkultur grundlegend und in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit verändern.
  • Es ist die Aufgabe der Corporate-Learning-Professionals, Pioniere der neuen Technologien und Arbeitsweisen zu sein und Unternehmen durch geeignete Angebote bei den notwendigen Lern- und Entwicklungsprozessen zu unterstützen.

Die Treiber der Digitalisierung sind technische Entwicklungen. Damit sind zunächst Funktionen wie Produktion, Distribution und Marketing befasst. Die Entwicklung ist jedoch viel tiefgreifender als das Update oder der Ersatz einer Produktionsmethode durch eine andere. Häufig steht das Geschäftskonzept auf dem Prüfstand. Wie kann ein Unternehmen lernen, sich auf ein völlig neues Umfeld einzustellen, und wie kann es abschätzen, wie dieses Umfeld aussehen wird? Keine der vorherrschenden Lerntheorien war in der Lage, darauf eine halbwegs brauchbare Antwort zu geben.
„A central tenet of most learning theories is that learning occurs inside a person. Even social constructivist views, which hold that learning is a socially enacted process, promote the principality of the individual (and her/his physical presence – i.  e. brain-based) in learning. These theories do not address learning that occurs outside of people (i.e. learning that is stored and manipulated by technology). They also fail to describe how learning happens within organizations.“(1) Diesem Befund setzt Georg Siemens den Konnektivismus (Connectivism) entgegen. Er hat den Anspruch, die Lerntheorie des digitalen Zeitalters zu sein. Er unterscheidet sich von den klassischen Lerntheorien darin, dass er die Verbindungen zwischen den lernenden Individuen mit in den Blick nimmt. Damit schließt er einen Aspekt mit ein, der prägend für die digitale Welt ist: die unbegrenzte Möglichkeit der Vernetzung und Verbindung völlig neuer Quellen und Ressourcen miteinander.

„Principles of connectivism:

  • Learning and knowledge rests in diversity of opinions.
  • Learning is a process of connecting specialized nodes or information sources.
  • Learning may reside in non-human appliances.
  • Capacity to know more is more critical than what is currently known.
  • Nurturing and maintaining connections is needed to facilitate continual learning.
  • Ability to see connections between fields, ideas, and concepts is a core skill.
  • Currency (accurate, up-to-date knowledge) is the intent of all connectivist learning activities.
  • Decision-making is itself a learning process. Choosing what to learn and the meaning of incoming information is seen through the lens of a shifting reality. While there is a right answer now, it may be wrong tomorrow due to alterations in the information climate affecting the decision.“ (1)

Mit anderen Worten: Lernen findet in Netzwerken statt, die neue Verknüpfungen zwischen Personen und Organisationen herstellen und dadurch neue Impulse generieren. „The pipe is more important than the content within the pipe.“(1)
Diese Sicht auf Lernprozesse ist besser als die Betrachtung des lernenden Individuums geeignet, die Prozesse zu beschreiben, die innerhalb einer Organisation und in Verbindung zu ihrer Umwelt stattfinden, wenn grundlegend neues Wissen erworben und verarbeitet wird.

Ein Blick auf die durchschnittliche Praxis von Corporate Learning, in mittelständischen, aber auch vielen Großunternehmen, zeigte 2007 (nicht alles hat sich seitdem verändert) einen überwiegend konservativ organisierten Seminar- und Schulungsbetrieb mit Frontalvorträgen, sorgfältig vorbereiteten Schulungsunterlagen und viele Ansätze, genau diese Kultur durch E-Learning in die digitale Welt zu übertragen. Es gab kaum Ansätze, die geeignet waren, die Unternehmenskultur aktiv weiterzuentwickeln und das Potenzial sozialer Netzwerke in Unternehmen zu nutzen.

Was war zu tun?

2007 begann der Arbeitgeberverband Hessenmetall, zunächst für Mitgliedsunternehmen, dann für einen immer vielfältigeren Kreis von Unternehmen aller Branchen, ein überbetriebliches Netzwerk aufzubauen, die „Corporate Learning Community“. Das Ziel war Wissenstransfer, aber auch, neue Ideen zu entwickeln. Nach zehn Jahren funktioniert das tragende Konzept noch immer: Es gibt weder eine verbindliche Agenda noch externe Referenten, sondern es ist völlig ausreichend, oder besser gesagt wesentlich produktiver, das bei den teilnehmenden Professionals vorhandene Wissen zu nutzen und gemeinsam neue Ansätze zu entwickeln. Die Arbeit an aktuellen Aufgaben aus der betrieblichen Praxis steht im Mittelpunkt der Treffen.
2010 kam als jährlicher, zweitägiger Event das „Corporate Learning Camp“ hinzu (in Kooperation mit der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände, VhU und der Frankfurt University of Applied Sciences). 2017 lautet das Schwerpunktthema „Learning and Development in the Digital Age“. Auch diese Veranstaltung kommt ohne vorbereitete Agenda und externe Referenten aus. Nach der Barcamp-Methode schreibt der Moderator die Agenda zu Beginn der beiden Tage gemeinsam mit den Teilnehmern, die auch den nötigen Input zu jedem Thema liefern. Viele Unternehmen haben seitdem die Barcamp-Methode für interne Veranstaltungen übernommen.

Die Erfindung des MOOCathons

Aber wie weit kann man den Gedanken des gemeinsamen Lernens in Netzwerken unter Nutzung digitaler Medien weiterentwickeln? Können 1 000 Menschen im Internet gemeinsam lernen und diesen Lernprozess dokumentieren? Das Kernteam der „Corporate Learning Community“(2) hat dies in einem Online-Angebot (MOOC) gemeinsam mit acht Unternehmen getestet. Am 08.05.2017 begann der Corporate-Learning-2025-MOOCathon(3) „Learning & Development in the Digital Age“. Er lief insgesamt über zehn Wochen und begann mit einer Auftaktwoche, in der das Kernteam das Konzept erklärte und die beteiligten Unternehmen vorstellte. In jeder Woche präsentierte montags um 13:00 Uhr ein Unternehmen in einer Livesession(4) über Skype einen unternehmensspezifischen Aspekt von Corporate Learning und richtete Fragen an das Onlinepublikum, die im Netz diskutiert wurden. Freitags um 13:00 Uhr fasste das Unternehmensteam in einer weiteren Livesession die Ergebnisse zusammen und zog Bilanz.
Am 15.05.2017 übernahm das Team von Merck die Regie unter dem Titel: Weiterbildung und Innovation – Gemeinsam sind wir erfolgreich.

Es folgten im Wochenrhythmus:

  • Continental: Neues Lernen im Kontext der digitalen Transformation
  • Otto Bock: Zurück in die Zukunft – Was müssen wir beachten, wenn wir Lernen 4.0 in einem traditionellen und gleichzeitig innovativen Familienunternehmen verankern wollen?
  • DNV GL Oil & Gas: 70:20:10-Lernphilosophie – Quo vadis? Erfahrungsbasiertes Lernen effizienter gestalten
  • Viessmann: Wie entstehen aus heutigen Kursteilnehmern die selbstorganisiert Lernenden von morgen?
  • Aareal Bank: Learning & Development als Innovationstreiber für den Digital Workplace?
  • Bosch: Die Rolle der Weiterbildung im digitalen Wandel
  • Audi: Lernen.anders – wie sieht das Corporate Learning bei Audi heute und in 2025 aus?

Eine Abschlusswoche diente der persönlichen Reflexion und der Evaluation. Jede Livesession auf Skype wurde aufgezeichnet und ist nach wie vor über die Webseite www.colearn.de verfügbar. Insgesamt nahmen 1 200 Personen teil. Pro Livesession waren im Schnitt 50 bis 100 Personen online, ungefähr die doppelte Anzahl sah sich im Lauf der Woche die Aufzeichnung an. Die Diskussion zwischen den Teilnehmern konzentrierte sich auf die Webseite und auf Twitter unter dem Hashtag #cl2025. 30 Teilnehmer haben eine persönliche Abschlussarbeit eingereicht. Sie fließt im September 2017 in einen Hackathon ein, auf dem ca. 40 Personen aus dem Teilnehmerkreis die Ergebnisse und offenen Fragen zusammenfassen.

Fazit: Wenn es gelingt, eine große und vielfältige Personengruppe mit einem gemeinsamen Thema anzusprechen, kann die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg außergewöhnlich produktiv sein und neue Ideen liefern. Die Voraussetzung sind eine offene, vertrauensbildende Kommunikation, ein verbindlicher, für alle hilfreicher gemeinsamer Rahmen und die Moderation durch ein eingespieltes Kernteam. Die Thesen des Konnektivismus haben den Praxistest bestanden. Noch wichtiger ist: Was über Unternehmensgrenzen hinweg funktioniert, kann um so mehr im Unternehmen über Abteilungs- und Bereichsgrenzen hinweg neue persönliche Netzwerke und Strukturen schaffen. Das ist eine der Voraussetzungen für besseres und kreativeres Lernen und die Fluidität, die wir in Zukunft noch mehr brauchen werden. Arbeitgeberverbände wie Hessenmetall und die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände können dabei den nötigen institutionellen Hintergrund bereitstellen.

von Charlotte B. Venema

Quellen:

(1) Georg Siemens, Connectivism: A Learning Theory for the Digital Age. http://www.itdl.org/Journal/Jan_05/article01.htm
(2) Das Kernteam der „Corporate Learning Community“ ist ein Netzwerk von HR-Profis der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände: https://colearn.de/clc-kernteam/
(3) ein Kunstwort aus MOOC – „Massive Open Online Course“ – und Hackathon, Details finden Sie auf www.wikipedia.de
(4) Zugang über www.colearn.de. Jeder, der sich registrierte, konnte kostenlos teilnehmen.