Betriebliche Gesundheit und ihr Management

Dimension systemische Kompetenz

Systemkompetenz bedeutet, hier den Wert „Gesundheit“ in der gelebten Unternehmenskultur zu verankern und Reflexionsräume für relevante Themen zu schaffen. Zugleich werden die Arbeitsbedingungen im Hinblick auf relevante Gesundheitsfaktoren (Salutogenese) gestaltet und partizipative Strukturen für erforderliche Veränderungsprozesse etabliert. Als Voraussetzung für gelingende Organisationsentwicklung sind zu nennen:

Wille und Entscheidung im Topmanagement
Für die erfolgreiche Umsetzung von Lernen und Entwicklung benötigen Mitarbeiter förderliche Strukturen und Prozesse. In hierarchisch organisierten Unternehmen wird Entwicklung von der Geschäftsführung initiiert und durch die funktionalen Einheiten weitergeführt. Dies bedingt insbesondere für die mittlere Führungsebene, das vereinbarte Leitlinien und ernsthafte Auseinandersetzung über den Wert Gesundheit auf allen Ebenen gelebt werden. Die Sinnhaftigkeit ambitionierter Vorhaben wird durch fehlende Konsequenz und doppelbödige Kommunikation der höheren Ebenen unterlaufen. Gesundheit als „Systemqualität“ muss vom Topmanagement gewollt und gelebt sein.
Unterschätzt wird in diesem Zusammenhang die Wirkung unternehmerischer Widersprüche. Anforderungen zwischen hohen Produktionsvorgaben, Effizienz und Kostenreduktion stehen in Spannung zu Bedürfnissen und Erwartungen der Mitarbeiter. Insbesondere Führungskräfte der mittleren Ebene erleben diese Anforderungen als Dilemmata und gesundheitliche Belastung. Unreflektiert erzeugen diese Dilemmata Lähmung, Frustration und Zynimus.


Praxisbeispiel

In einem Kurs für Controller bat ich die Teilnehmer zum Kennenlernen nur solche Fragen zu stellen, die mit Zahlen zu beantworten seien. Nach 20 Minuten diskutierten wir darüber, was sich über Zahlen von der Persönlichkeit erfahren lässt. Erstaunen über die Grenzen des „Zählbaren“ wurde geäußert. Im Fortgang entwickelten wir notwendige Perspektiven, um unternehmerische Wirklichkeiten jenseits der Zahlen abbilden zu können.


Off-on-Balance
Studien zum Nutzerverhalten von digitalen Geräten in Unternehmen erlauben von einem „Produktivitätsparadox“ zu sprechen.(10) Dauer­erreichbarkeit, permanente Arbeitsunterbrechung und digitaler Präsentismus führen zu Leistungsminderung und Stressbelastung. Betriebswirtschaftliche Studien beziffern „The Cost of Not Paying Attention“ mit Milliarden-Beträgen. Unternehmen reagieren mit restriktiver Abschaltung der E-Mail-Server oder flexiblen Arbeitszeiten. Die Maßnahmen treffen nicht den Kern. Es braucht eine gesamtunternehmerische Entwicklung des Kommunikationsverhaltens. Reflektiertes Nutzerverhalten der Mitarbeiter wird zu den Kernkompetenzen der Zukunft gehören.

Digitalisierung suggeriert Eindeutigkeit
Die umfassenden Auswirkungen digitaler Innovationen werden in Unternehmen keine Reservate von Rückzug und Schonung ermöglichen. Big Data, Künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Materialwissenschaft werden auch im Personalwesen Einzug erhalten. Die massenhafte Verbreitung der „Wearables“ im Gesundheitssektor befragt bisherige Übereinkünfte der Balance von Beruf und Privatheit. Versicherungsgesellschaften prämieren die Bereitstellung von Gesundheitsdaten, Unternehmen folgen diesem Trend. Werden wir zu gesünderem Verhalten motiviert oder liefern wir uns der Überwachung aus?

Schon heute scheitert die Einführung von Betrieblichem Eingliederungsmanagement (BEM) in vielen Unternehmen am bezweifelten Datenschutz. Zugleich geben Daten keinen unmittelbaren belastbaren Anhalt für Gesundheit und Krankheit. Sie müssen analysiert und mit Bedeutung versehen werden. Sensibilität und Schutz vor logischen Irrtümern ist hier geboten. „Kopfschmerz ist keine Folge von Aspirin-Mangel!“ Relevante Einflüsse auf die Gesundheit wie Führungsverhalten, konstruktives Konfliktmanagement, Kooperation und Partizipation sind hier eindeutig vorrangig zu gestalten.

Vertrauen

Was lässt sich in der Zusammenarbeit zwischen Menschen nicht digitalisieren? Im Gegenüber von Standardisierung und binärem Kalkül lebt Zusammenarbeit von Vertrauen. Jener menschlichen Haltung, die Kultur und Freiheit im Unternehmen ermöglicht. Im Umgang mit Krankheit und Gesundheit wird künftig das Zusammenspiel zwischen eHealth und Kultur erhebliche Aufmerksamkeit erfordern. Auf welcher Datenbasis werden Algorithmen Werturteile fällen? Werden Fitnesswerte aus der Digital All-Feature-Watch in der Cloud diagnostisch beurteilt? Welche Schlüsse ziehen Personalabteilungen durch „People Analytics“, um Gesundheitsrisiken der Mitarbeiter und Führungskräfte einzuschätzen? Werden Krankheiten in ihrer Bedeutung für menschliche Entwicklung und Reifung bedeutungslos und funktionaler Orientierungslogik zugeordnet, Gesundheit ausschließlich „be“rechnet und „aus“gerechnet? Algorithmen werden Urteile über Mitarbeiter und Führungskräfte fällen. Gelebte Kultur im Unternehmen wird Haltungen des Vertrauens jenseits funktionaler Logik stärken müssen, um letztlich die Hoheit menschlicher Reflexivität und Entscheidung zu wahren.

Ökonomie

Es gibt einen unbestreitbaren Zusammenhang zwischen ökonomischer Rationalität und menschengerechter Arbeit. Auch wenn Zahlen nicht alles erzählen: Betriebsergebnisse und Gesundheitsvorsorge korrelieren. Wann finden diese Zusammenhänge Eingang in die betriebliche Steuerung? Ergebnisgetriebenes kurzfristiges Entscheiden steht nachhaltiger Unternehmensführung oftmals entgegen. Auf Sicht hebt eine Unternehmensführung, die ihr Wirtschaften so gestaltet, dass sich der Mitarbeiter darin als Beitragender und durch Sinn motivierter Mensch erfährt, diesen Gegensatz auf. Ökonomische Kalkulation „rechnet“ mit diesem Zusammenhang.


„Praxisbeispiel“

Ein mittelständisches Familienunternehmen (Automobilzulieferer) wandte sich mit ungewöhnlich hohen Krankenständen an mich. Im Erstgespräch berichteten sie von ersten Gesundheitsmaßnahmen für Mitarbeiter, die ihnen empfohlen wurden.
Mein Vorschlag einer Großveranstaltung für alle Mitarbeiter bedeutete kulturelles Neuland. Gesundheit sollte nicht von oben verordnet, sondern in Gesundheitsdialogen entfaltet werden.
Die Beteiligung und das Engagement an dem im Großgruppen-Konzept gestalteten Gesundheitsdialog beeindruckte die Geschäftsführung nachhaltig. Es zeigte sich die Notwendigkeit, kommunikative Prozesse begleitend zu den rasanten innovativen Veränderungen im technischen Bereich auf allen Ebenen zu fördern. Agile beteiligungsorientierte Methoden belebten die Verständigung. Die Krankenquote wurde als Symbol für Überforderung und Sprachlosigkeit im Umgang mit Innovation und Umstrukturierung gedeutet.


Zusammenfassung

Unternehmen mit ernsten Ambitionen organisieren keine „Sonderveranstaltungen“ zu Gesundheitsthemen, sondern betrachten Gesundheit als grundlegende Perspektive auf alle Leistungs- und Wertschöpfungsprozesse im Unternehmen. In Respekt vor Privatheit und Autonomie des Mitarbeiters wird auf Anordnung und Prämierung für Gesundheit verzichtet. Themen im Umgang mit Arbeitsbelastungen werden dialogisch angeboten und partizipativ gestaltet. Führungsebenen entbinden sich nicht der Reflexion eigener Haltungen, sie verstehen sich als „Kulturprotagonisten“ und verantworten die dialogische Qualität. Entscheidend ist die Frage nach Leistungsgrenzen und kulturell getragenen Antworten. Weniger Methode und Maßnahme zugunsten von Dialog und Dienstleistung für die Mitarbeiter. Beispielhaft seien hier die begleitenden Gesundheitszirkel benannt.

von Matthias Tholen

(1) § 5 ArbSchG; https://www.gesetze-im-internet.de/arbschg/__5.html
(2) WHO; http://www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/ottawa/en/
(3) § 4 ArbSchG; https://www.gesetze-im-internet.de/arbschg/__4.html
(4) Rigotti, T.; Holstad, T.; Mohr, G.; Stempel, C.; Hansen, E.; Loeb, C.; Isaksson, K.; Otto, K.; Kinnunen, U.; Perko, K. (2014): Rewarding and sustainable healthpromoting leadership. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
(5) Sonntag, K.; Stegmaier, R.; Spellenberg, U. (Hrsg.) (2010): Arbeit, Gesundheit, Erfolg. Kröning: Asanger.
(6) Dahl, M. (2011): Organizational Change and Employee Stress. Management Science, 53, S. 240-256.
(7) Schmid, B.; Veith, T. (2016): Im Spannungsfeld von Unternehmenskultur, Bildung und Gesundheit. In: Hänsel, M.; Kam, K.: CSR und gesunde Führung. Berlin: Gabler.
(8) Antonosvky, A.; Franke, A. (1997): Salutogenese – zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag.
(9) Purps-Padiagol, S. (2015): Führen mit Hirn, Frankfurt/Main: Campus-Verlag.
(10) Markowetz, A. (2016): Digitaler Burnout. München: Droemer.